Frau BuchheisterSehr geehrter Herr Rahn, lieber Uwe,
sehr geehrter Herr Pfähler,
sehr geehrter Herr Bürgermeister Dr. Eger,
sehr geehrte Eltern, Angehörige und Freunde,
liebe Kolleginnen und Kollegen des Lehrkollegiums und der Verwaltung,
liebe Abiturientinnen und Abiturienten,

heute ist es so weit – die Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 12 erhalten feierlich das Zeugnis der Reifeprüfung und verlassen unsere Schule. Herzlichen Glückwunsch Ihnen allen von Herrn Dr. Herrmann und mir zum bestandenen Abitur und Dank für die Einladung, Sie heute bei diesem wichtigen Schritt begleiten zu dürfen.

Es ist vielleicht einer der schönsten und bewegendsten Momente für uns Lehrer und Lehrerinnen, Sie als Jugendliche so weit vorzubereiten und zu führen, dass Sie von nun an Ihr Leben selbst in die Hand nehmen können. Es verdeutlicht, welch Privileg unser Beruf bietet, der uns diesen entscheidenden Teil der Verantwortung für Ihre Entwicklung anvertraut. Danken möchte ich Ihren Lehrern und Lehrerinnen, die Sie über all die Jahre gefördert, ermahnt und ermutigt haben – und Dank gebührt Ihren Eltern, Ihren Familien, die Sie in guten und in schlechten Zeiten tragen und zu Ihnen stehen.

Das Abiturzeugnis ist für Sie als Gymnasiasten Ihre Eintrittskarte in die Welt – und was steht Ihnen mit einem solchen Abschluss nicht offen? Sie sind zu beneiden um die Vielfalt des Möglichen, das sich Ihnen durch Ihre Schulbildung und Ihre Jugend bietet. Und sicher gibt es einige unter Ihnen, die eine gewisse Beklommenheit angesichts der neuen Freiheiten, der Unzahl an Entscheidungen oder bereits bestehender Erwartungen spüren. Wer sagt Ihnen, ob der einzuschlagende Weg für Sie der richtige ist?

Hier möchte ich Sie ermutigen: Ziehen Sie los, probieren Sie aus, was Sie im Herzen bewegt und begeistert. Und hören Sie nicht immer auf das, was andere für Sie vorsehen – auch dann nicht, wenn es das Naheliegende und Bequeme ist. Das Leben ist selten so beschaffen, dass Sie im Voraus auf alles vorbereitet sein können. Das wissen Sie, denn Sie haben Kafka gelesen. Und Sie haben gelernt, wie umwälzend schnell sich die Menschheit des 20. und 21. Jahrhunderts technisch und naturwissenschaftlich entwickelt. Wer möchte da vorhersagen, was in 10 oder 20 Jahren von Bedeutung ist, worauf Sie sich jetzt bereits einlassen sollten.

Im Gegenteil, vieles von dem, was wir, die Generation Ihrer Eltern, noch für Grundsätze eines gelingenden Lebens hielten, wird für Ihre Generation kaum mehr allgemeine Geltung beanspruchen dürfen. Denken Sie nur an die Vorstellungen von Familie, die Rolle der regelmäßigen Arbeit, des gesicherten Einkommens, die Steigerung des Selbstwerts durch kontinuierliche Mehrung des Eigentums, die Einstellung zu Wachstum und vorhandenen Energien. ‚Schneller – Stärker – Weiter’: das gilt schon heute nur noch mit Einschränkungen.

Und genau das, dieser Umbruch, die allgemeine Verunsicherung, die schenkt Ihnen Freiheit und Unabhängigkeit. Ich wünsche mir für Sie, für uns alle, dass Sie als Abiturientinnen und Abiturienten diese Gelegenheit beim Schopf ergreifen und mit unverstelltem Blick Ihr Leben, unsere Gesellschaft gestalten. Das ist das Privileg Ihrer Jugend, Ihrer Generation: Sie sind die Zukunft und mit dem Satiriker und kritischen Geist des Österreichers Karl Kraus möchte ich Ihnen mit auf den Weg geben: „Wenn die Eltern schon alles gebaut haben, bleibt den Söhnen und Töchtern nur noch das Einreißen.”

Leicht werden wir es Ihnen nicht machen, das mit dem Einreißen. Denn anders als wir selbst, als wir noch jung waren, haben Sie eines nicht mehr, um sich durchzusetzen: die gesellschaftliche Mehrheit. In einer Demokratie ist das nicht unerheblich. Ihre Generation wird zu den ersten gehören, die eine Mehrheit von Alten vorfindet, die den politischen und gesellschaftlichen Diskurs bestimmen. Das bemerkt man schon heute, wenn beispielsweise über die Dreißigjährigen launig als ‚Generation Praktikum’ gesprochen wird, wenn in Krisenzeiten die jungen Männer und Frauen der europäischen Nachbarstaaten keine Arbeit mehr finden und scharenweise ihre Heimatländer verlassen müssen oder wenn man, vielleicht etwas weniger launig, die mangelnde Selbständigkeit der heutigen Jugend beklagt, die sich Ausdruck im ‚Hotel Mama’ verschafft. Und wer will es Ihnen verdenken? Wo sollen die Jungen denn hin, wenn, wie bei ‚Hase und Igel’, immer schon einer da sitzt und auf lange Sicht nicht gewillt ist, den Platz zu räumen oder nur mit Ihnen zu teilen. Dabei sind Sie doch die Zukunft und die alten Rezepte greifen auf Dauer weder wirtschaftlich noch sozial.

In der Wochenzeitung ‚ Die Zeit’ vom April dieses Jahres habe ich dazu zum ersten Mal eine Polemik gelesen, geschrieben von einer relativ jungen Journalistin, Anita Blasberg. Sie fragt sich, wann sie sich zum ersten Mal angefangen hat zu wundern: „War es im März, als der Altpunker Campino (50) für den wichtigsten deutschen Musikpreis Echo nominiert wurde, gemeinsam mit den Altrockern Bruce Springsteen (63), Joe Cocker (68) und Peter Maffay (63)?” Oder – so schreibt sie – war es auf dem Gründungsparteitag der Protestpatei ‚Alternative für Deutschland’, wo über Siebzigjährige die Welt retten wollen, indem sie die Abschaffung des Euro fordern. Man habe das Gefühl, dass die Zeit festgefroren sei. Demographisch stellt man in der Tat fest, dass bald jeder zweite Wahlberechtigte über 60 ist: die absolute Mehrheit.

Was heißt das für Sie, die Abiturientinnen und Abiturienten von heute. Die Journalistin Anita Blasberg beobachtet eine fatale Verkehrung der Umstände: waren früher die Alten pragmatisch und die Jungen idealistisch, ist das heute umgekehrt: „Mehr als alles andere”, so sagt sie, „haben wir Jungen gelernt zu funktionieren, die Erwartungen der Älteren zu erfüllen.” Man kann dies nicht ganz von der Hand weisen: Ihre Jugend, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, war zumindest seit dem 11. September 2001 von Krisen gekennzeichnet, die bis heute anhalten: politische Krisen, Finanzkrisen, Bildungskrisen, Wirtschaftskrisen. Zweifel und die Gewissheit, dass nichts bleibt, wie es ist, kennzeichnen das heutige Lebensgefühl.

Das war in meiner Jugend, in der Generation der Eltern, anders. Der Protest, den eine Mehrheit der Jugendlichen damals bewegte, wurzelte in der Zuversicht, eine bessere Welt gestalten zu können. Wir hatten den Vorteil zu wissen, dass die Zeit für uns spielte und wir irgendwann die gesellschaftliche Mehrheit erhalten, unsere Ideale zu verwirklichen.

Wenn ich Sie heute dennoch zuversichtlich in das Leben entlasse, dann deshalb, weil selbst der noch so jung gebliebene best-ager irgendwann begreifen wird, dass er Ihnen den Platz räumen muss – allein um gesellschaftlich zu überleben. Sie werden sich nicht durch Ihre Mehrheit behaupten können. Aber Sie haben einen immensen Vorteil: Sie sind wahrhaft jung. Sie haben den unverstellten Blick der Jugend, die Kraft und die Ausbildung, sich den Herausforderungen auf neue Art zu stellen. Wir als Ihre Lehrer und Lehrerinnen wissen, was in Ihnen steckt. Von uns, von Ihren Eltern bekommen Sie das Vertrauen, Aufgaben verantwortlich zu übernehmen und Ihr Leben, das Leben der anderen, selbst zu gestalten.

Dieses Vorrecht müssen Sie sich nehmen. Sie müssen Strategien finden, sich Gehör und Einfluss zu verschaffen, die über die bekannten Verfahren hinausgehen und dennoch den gesellschaftlichen Frieden und Konsens herstellen. Und Sie müssen Neuland betreten. Das werden Sie meistern – davon bin ich überzeugt. Sie werden das Leben in Ihre Hände nehmen, weil Sie gelernt haben, zu denken und Verantwortung für Ihr Handeln zu übernehmen. Sie sind als junge Menschen nicht nur kenntnisreich, sondern kreativ, mutig und eigenständig. So haben wir Sie in unserer Schule erzogen – mit Blick auf Ihre und unsere Zukunft.

Nur eines dürfen Sie nicht: einfach funktionieren – auch wenn es noch so bequem wäre. Es ist die schlimmste Form der Anpassung, wenn Menschen das eigene Denken aufgeben und glauben, so für nichts, nicht einmal für sich selbst, Verantwortung übernehmen zu müssen. Die Philosophin Hannah Arendt hat diese Haltung konsequent zu Ende gedacht und gefolgert, dass jemand, der in solchem Funktionieren seine Persönlichkeit vergibt, zugleich sich selbst dessen beraubt, was ihn eigentlich zum Menschen macht: die Fähigkeit, sich seiner selbst im Denkprozess bewusst zu werden. Der Preis dieser Haltung ist totale Unmündigkeit, Hannah Arendt würde sagen: die ‚Überflüssigmachung des Menschen als Menschen’. Und welche Verschwendung wäre dies: ‘think of all the stories that you could have told’. (in Anlehnung an Asaf Avidans Popsong: One Day)

An dieser Stelle also fordere ich Sie zum Widerstand auf: wenn der Pragmatismus wirklich die Haltung Ihrer Generation ist, dann werden Sie unbequem, löcken Sie gegen den Stachel des Zeitgeists. Nehmen Sie sich die Freiheit, den eigenen Weg zu gehen, auch wenn er nicht der direkte ist und vor Ihnen von niemandem begangen wurde. Vitali Klitschko, den Sie sich als Paten für Ihr Abimotto gesucht haben, ist da ein sehr gutes Vorbild. Obwohl er ein Ausnahmetalent im Boxen ist, hat er neben seinem Training promoviert und nutzt seine Popularität, um in seiner Heimat für mehr politische Gerechtigkeit und gegen Korruption zu kämpfen. Er wagte ein zweites Comeback als Boxer und gönnte sich Pausen, um seinen Weg in seiner Zeit zu gehen.

Und selbst in der Welt der Unternehmensberatungen, wo sich alles eigentlich nur um Profitmaximierung dreht, gibt es Raum für bisher Unerhörtes: die Harvard-Absolventin Rachel Botsman, 34 Jahre jung, zählt heute zu den meist gefragten Expertinnen, wenn es um innovative Zukunftskonzepte geht. Ihre Idee ist bestechend einfach und zugleich vollkommen konträr zu unseren Vorstellungen: what’s mine is yours – collaborative consumption (gemeinschaftlicher Konsum heißt das). Neu an der Idee der gemeinschaftlichen Nutzung ist die Freiwilligkeit, mit der jeder entscheiden kann, was er von seinem Eigentum teilen und zur Verfügung stellen will. Angesichts schwindender Ressourcen ist das offensichtlich etwas, was eine neue Bewegung in der globalen Welt begründet und durch die Technik der sozialen Netzwerke erst möglich wird. Damit schaffte es Rachel Botsman immerhin auf die Liste des ‚Time Magazine’ mit den 10 Ideen, die die Welt verändern werden. Wenn Sie nicht überzeugt sind, dann fragen Sie sich doch einfach, wie lange Sie im Leben Ihre Bohrmaschine benutzen werden, sofern Sie sie nur privat nutzen: durchschnittlich 13 Minuten. Da wird Teilen und Tauschen zur echten Option.

Vorbilder, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, finden Sie genug. Sie sollen Sie inspirieren und oft muss man gar nicht so weit entfernt danach suchen. Für die meisten von Ihnen zeichnen sich die nächsten Schritte ja auch bereits ab. Wir, Herr Dr. Herrmann und ich zusammen mit der Schulgemeinschaft, wünschen Ihnen viele neue, spannende Erlebnisse, einen guten Start für alles, was Sie jetzt unternehmen, und das bisschen Glück und Zuversicht, die jeder von uns braucht: mit den Worten der Band ‘Swedish House Mafia’: don’t you worry, child, see,heaven has got a plan for you.

Vielen Dank